EIN EHRLICHER MENSCH WIRD
PLÖTZLICH ZUM BETRÜGER.
(Quelle: Text von Erwin Koch, Das Magazin 28)
Kalt war die Welt und nass, als ich heute nacht Schötz erreichte, ein
Dorf in einem Gebiet, das die Einheimischen Hinterland nennen, acht Grad
östlich von Greenwich. Vorbei an drei Tankstellen und zwei Kirchen,
erreichte ich das Wirtshaus zum "Sankt Mauritz". Menschen standen davor.
Sie trugen bunte Tücher und quietschten unter Masken. Heute sei
Narrenball, sagte einer, Kostüm obligatorisch. Dennoch setzte ich mich
in eine Ecke der Stube und wartete. Aus dem Saal nebenan quoll gestaute
Fröhlichkeit. Eine Gestalt, blutrot das Gewand, weiss die Maske und ohne
Kontur, setzte sich an meinen Tisch. Dampf drang aus ihrem Kleid. Sie
schwieg lange und jagte nach Luft, dann hatte ich das Gefühl, sie
betrachtete mich aus ihren Schlitzen. Plötzlich, mit schmerzentstellter
Stimme, kreischte sie:
"Der Vatikan ist schuld!" Dann hob der Narr eine Hand und spreizte den
Daumen ab, der in weissen Stoff gewickelt war.
"Geschnitten?" fragte ich.
"Zertrümmert!" grunzte er.
Und der Blutrote, aus einem Röhrchen, das er sich in den Mund steckte,
Coca-Cola unter die Maske führend, begann, von seinem Schmerz zu reden.
Am hellen Nachmittag nämlich hätte er sich im Nachbardorf Altishofen
hinter der Sägerei von Otto Wigger, Richtung Unterfeldächer, neben die
Männer der heimischen Pfyfferzunft gestellt. Dieser Verein, wie alle
Jahre, begeht die Altishofer Fasnacht mit einem Umzug durch den Ort, und
sein Name, Pfyfferzunft, erinnert an das berühmte Geschlecht der
Freiherren Pfyffer von Altishofen, deren edler Spross Karl, Oberst der
Schweizergarde im Dienst des Franzosenkönigs Ludwig XVI., am 10. August
1792, als die Revolution das königliche Palais, die Tuilerien,
erreichte, den Heldentod nur deshalb verpasste, weil er zur Zeit des
Sturms in Luzern im Urlaub war.
"Was hat das mit Ihrem Daumen zu tun?" unterbrach ich.
"Das erfährst du ja eben", antwortete der Rote. Hinter der Sägerei Wigger
also, Richtung Unterfeldächer, gab die Pfyfferzunft am Nachmittag einem
Heuwagen, den man
am Sonntag durchs Dorf ziehen würde, um Spass ins Leben zu bringen, den
letzten Schliff. Ein Häuschen bauten sie auf den Wagen, einen
Papiergeier aufs Dach, dessen Flügel, mittels Seilzug, sich bewegen
liessen. Das Häuschen trug einen Namen: Dorfkern 2. Und daneben stand,
aus Gittern gefertigt, ein Gefängnis. Dann malten die Männer das Zeichen
der Raiffeisenbank an den Karren, drei goldene Ahren und einen blauen
Schlüssel auf rotem Grund, und das Gemeindewappen von Schötz und die
Worte: "Die Millionen vom M. P. sind Eier vom Pleitegeier!"
"M. P.!
"Moment!" befahl er.
Mensch
Als die Pfyfferzunft von Altishofen dann ihren Scherz erstmals aus der
Sägerei zog, entdeckte sie, dass der Käfig, den sie auf die Bretter
gebaut hatte, zitterte. Denn am Umzug soll ein Mensch gefahrlos im
Behältnis stehen, und er wird auf seinen Schultern einen Kartongrind
tragen, der die Züge eines gewissen Herrn M. P. hat. Und darum beschloss
die Zunft, die Gitter mit langen Nägeln besser zu befestigen. Also sei
er, sagte der Narr, aufs Fahrzeug geklettert und habe begonnen, die
Nägel ins Holz zu schlagen und ihre Köpfe um die untersten Stäbe des
Gefängnisses zu krümmen. Beim zweitletzten Nagel passierte es. Der
Finger war schwarz und rot. Ich trank mein Bier. Verkleidete lärmten
durch den Raum, wankten in die Nacht, um sich zu kühlen, gingen wieder
in den Saal, froh und locker zu sein. Der Seltsame an meinem Tisch aber
schwieg. Schweiss tropfte aus seiner Maske. Manchmal hob er die Hand,
betrachtete den verletzten Daumen, schüttelte, nicht heftig, den Kopf.
"Sie wollten mir", fing ich wieder an, "etwas erklären."
"Was?"
"Von diesem M. P.."
Der Rote, trotz seiner Tarnung, schaute sich nach allen Seiten um, schob
das Coca-Cola weg. Der herzensbeste Mensch in Schötz war dieser M. P.,
bis am 4. Mai 1992. Dann, kurz nach 13 Uhr, verliess er, Verwalter der
Raiffeisenbank, ohne Nachricht das Dorf. So geschickt M. P. zu
geschäften und die Bilanzsumme von Jahr zu Jahr zu steigern verstanden
hatte - von jenen sechs Millionen Franken, die er 1969 von seinem
Vorgänger übernahm, auf die 95 Millionen zum Zeitpunkt seines
plötzlichen Abschieds -‚ so freundlich und leise war er im Umgang mit
allen. Kinder, die ihr Gespartes zu ihm brach ten, belohnte er, von Fall
zu Fall, mit fünf, mit zehn, mit zwanzig Franken. Der Ruf seiner Güte
war grösser als das Hinterland. Selbst aus Emmenbrücke, einem Vorort der
Kantonshauptstadt Luzern, kamen Menschen angereist, um sich in Dingen
des Geldes mit M. P. zu beraten. Junge Handwerker ohne Vermögen, von
keinem Institut für kreditwürdig gehalten, fanden Erbarmen bei M. P.s
Bank. Einmal nur in 23 Jahren wies der gute Mensch von Schötz einen
Bittsteller ab, und. M. P. plagte noch lange der Gedanke, enttäuscht zu
haben. Schötz gedieh. War im Dorf Geld vonnöten, genügte allen der Satz:
Der Peter finanziert! Quittungen waren Luxus, sie hätten bloss das
Misstrauen belegt. Dann, 1984, baute die Raiffeisen am Dorfkern 2 ein
neues, rotes Haus. M. P. zog mit seiner Familie unter die Sichtbalken im
vierten Stock, im Erdgeschoss schnellte die Bilanz auf 60 Millionen
hoch.
Von der Reise hungrig, bestellte ich einen Wurstsalat. M. P., als er
sich am 4. Mai 1992 kurz nach 13 Uhr aus seinem Dorf machte - und Frau
und Tochter hatten beim Mittagessen, gewöhnlich wie immer, vom
Ungewöhnlichen nichts bemerkt-, war nicht nur ein Mann der Prozente,
ebenso war er als Kirchmeier dem gerechten Gott verpflichtet. Im Jahr
1973 bereits hatte die Kirchegemeinde Schötz-Ohmstal den jungen
Katholiken M. P., Mitglied der einzigen Partei, deren Programm dem
Posten eines Kirchenverwalters gerecht wird, der
Christlichdemokratischen Volkspartei, ins Amt gerufen. Und Heidi, die
Ehefrau aus Ebersecken, als ahnte sie ein Verhängnis, weinte damals
leise.
Kirchmeier M. P. erfüllte seine Pflicht mit Lust. Für sechs Millionen
Franken renovierten die Schötzer Katholiken Pfarrkirche, Pfarrhaus und
die Kapelle des heiligen Mauritius, für zwei Millionen bauten sie ein
Pfarreiheim ins Dorf. Und die Kirchgemeinde, deren Verwalter M. P. war,
erhielt dabei Kredit bei der Raiffeisenbank, deren Verwalter M. P. war.
"Sie sind wohl dieser M. P. selber, dass Sie alles so genau wissen", sagte
ich.
Ein Wiehern schoss aus der Maske. M. P., fuhr der Rote fort, war nicht
nur Bankverwalter und Kirchmeier, sondern zu guter Dritt noch Kassenwart
der Kranken- und Unfallversicherung Konkordia. Und auch darin brachte
der Mensch es zur Meisterschaft, dass ihn der Vorstand des
Kantonalverbandes Luzern am 29. Oktober 1991 zu ihrem Präsidenten
wählte.
"Ein edler Mensch", stöhnte die Maske, "trotz allem." Und jeden der 30
Vereine im Dorf habe M. P. beschenkt, allein 2000 Franken für das
Jubiläumsfaustballturnier der Männerriege. Und nur M. P.s Hochherzigkeit
sei zu danken, dass die Feuerwehrmänner alle Jahre im Februar ihre
Frauen an die Agathefeier laden konnten, wo die Plastiktücher der
Raiffeisen sich gratis über die Tische spannten, drei Ähren und der
blaue Schlüssel. "Ein edler Mensch", wiederholte der Fremde, "und keiner
in der Musikgesellschaft Eintracht spielte <II Silenzio> so sauber wie
er."
Also sprach der Narr sich in Trauer, hob, wenn der Schmerz ihn stach,
die Hand und schimpfte auf den Vatikan, der an allem schuld sei, und ich
sass stumm über meiner Wurst und hörte zu. Aber M. P. sei nicht nur
fromm, sondern auch lustig gewesen. Wenige Wochen vor dem 4. Mai 1992
sei er beim Schötzer Schützenbund aufgetreten, und dann habe er, der
etwas zu fett und kurz geraten sei, in der Montur zweier berühmter
Sängerwänste, der Wildecker Herzbuben, ein Lied gesungen, das alle Welt
kenne: "Herzilein, du sollst nicht traurig sein."
Seltsam war die Welt und kalt, als ich heute nacht Schötz erreichte. Im
"Sankt Mauritz" waren die Narren los, und ich dachte, vom Gerede eines
Eingeborenen bei Laune gehalten, an das Gute im Menschen. Ich tupfte die
Sauce aus dem Teller, als der Rote die heisse Hand auf meinen Arm legte
und langsam, als wären sie eine Formel, die Worte sprach: "Die Schötzer
hatten Tränen in den Augen, verstehst du?"
"Wegen der Spässe ihres Bankverwalters?"
Kurz nach 13 Uhr, am 4. Mai 1992, verliess M. P., von allen geliebt, das
Hinterland. Um 14 Uhr rief er seine Frau an und teilte ihr mit, die
Pistole an seiner Schläfe sei geladen, er brauche nur noch abzudrücken.
Denn die Gerechtigkeit sei nicht eingekehrt. Die Frau wimmerte in den
Apparat: "Was für eine Gerechtigkeit?" Zwei Stunden später, als die
Tochter bereits von der Schule nach Hause gekehrt war, rief M. P. wieder
an, sagte, er sei im Kanton Tessin, zum Sterben parat. Das Kind schrie.
Der Vater beharrte, er müsse von dieser Welt.
Der Frau gelang es schliesslich, Schreinermeister Setz, den Präsidenten
des Verwaltungsrates der Raiffeisenbank Schötz, und Verkaufsleiter Frey,
den Präsidenten des Aufsichtsrates, ins Bild zu setzen. Die Männer
eilten an den Dorfkern und redeten hin und her, schlossen nicht aus,
dass ihr Verwalter, Schötzer Frohnatur, sich einen besonderen Scherz
erlaubte.
M. P. verbrachte die Nacht in einem Hotel in der Stadt Bellinzona. Er
rechnete aus, dass die Beträge der privaten Lebensversicherung, der
beruflichen Vorsorge und der eidgenössischen Alters- und
Hinterlassenenversicherung (AHV) ausreichten, der Familie, die er nun
hinter sich liess, ein Leben ohne Mangel und Überfluss zu sichern. Er
legte sich ins Bett, die Pistole, die ihm, dem Unteroffizier der Armee,
die Eidgenossenschaft vermacht hatte, neben sich.
Am frühen Morgen des 5. Mai 1992, nach einer Nacht ohne Schlaf, hob Heidi
M. P. den Hörer vom Apparat, und ihr Mann, noch am Leben, befahl ihr,
die beiden Kinder in die Schule zu schicken, er besteige nun den Zug
nach Luzern, um sich dort der Polizei zu stellen. Denn einen Selbstmord
bringe er nicht fertig. Schreiner Setz und Verkäufer Frey, als sie von
M. P.s Umkehr hörten, fuhren in die Hauptstadt und warteten auf die Bahn
aus dem Tessin. Endlich, Ankunft 10.46h, stand M. P. vor ihnen, wie sie
ihn noch nie gesehen hatten, bleich und gebrochen. Noch dachten die zwei
Präsidenten, der Kummer ihres Freundes liesse sich am besten in Schötz
bereden, ohne Polizei und Verhör. M. P. aber weigerte sich, ins Dorf zu
reisen, trank im Bahnhofbuffet seinen letzten Kaffee, dann ging er zu
Fuss durch die Stadt, erreichte an der Kasimir-Pfyffer-Strasse........
"Schon wieder ein Pfyffer!"
"Unterbrich mich nicht", zischte der Narr, "Kasimir Pfyffer war der Sohn
von Franz Ludwig, und Franz Ludwig war Hauptmann der päpstlichen
Schweizergarde im Jahr 1797, als Napoleon, dieser elende Verräter aller
Ideale, Rom eroberte und Papst Plus VI. nach Frankreich verschleppte."
"Haben Sie was gegen Napoleon?" foppte ich am Narrenball und meinte die
Frage nicht ernst. Der Rote aber warf sich ins Lot: "So wahr ich mir
heute den Finger spaltete, so ungerecht widerfuhr die Französische
Revolution mit dem Papst. Napoleon, der Korsenlump, verschleppte den
Heiligen Vater nur deshalb, weil, primum, Pius VI. Für den
hingerichteten Ludwig XVI. eine Totenmesse gelesen und, secundum, den
Satz gesprochen hatte: <Wir setzen für die spätere Zeit grosse
Hoffnungen auf den Sohn des enthaupteten Königs, von dem wir wissen,
dass er gerettet worden ist.>"
"Oder sind Sie vielleicht sogar ein Herr Pfyffer?" Er kicherte.
An der Kasimir-Pfyffer-Strasse 26 erreichte der Raiffeisenbank-Verwalter
M. P. aus Schötz das Hauptgebäude der Kantonspolizei Luzern. Der Beamte,
der hinter dem Schalter sass und M. P.s Anzeige hörte, fragte, als der
Schötzer geendet hatte, ob er sich auch wirklich gesund fühle und dies
in jeder Beziehung. M. P. wiederholte, er habe Millionen von Franken
unterschlagen
Vielen im Dorf standen Tränen in den Augen, als am Morgen des 6. Mai
1992 Radio DRS die Nachricht ausbrachte, der Verwalter der
Raiffeisenbank Schötz sitze in Untersuchungshaft. Die "Luzerner Zeitung"
zitierte M. P.s Vorgesetzten, der, trotz aller Enttäuschung, von einem
"Bilderbuchverwalter" sprach.
Doch die Tränen der Hinterländer trockneten schnell. Ausgerechnet der M.
P., erregten sie sich, musste jeden Sonntag vorne rechts in der ersten
Kirchenbank hocken! Und den eigenen Steuerausweis soll er gefälscht
haben, damit die Behörde von seinem Reichtum nichts merkt, und 800
erfundene Mitglieder in die Krankenversicherung Konkordia
eingeschrieben, deren Beiträge er mit gestohlenem Geld bezahlte, um als
bester Kassier im Kanton dazustehen! Hätte der Gauner nicht noch ein
halbes Jahr warten können mit seiner Beichte, um dem Jodlerclub
Bergglöggli die Herbstreise nach Neuseeland zu finanzieren?
"So gemein ist das Volk?" fragte ich über den Tisch.
"So gemein ist der Pöbel!" sagte der Mann. "Schon 1838!"
"Schon damals?"
Papst Johannes XXIII sprach: Noch heute
werde ich die
Unterlagen lesen.
Im Jahr 1838 bot die Gemeinde Schötz dem Prinzen Louis Napoleon
Bonaparte, einem Profiteur der Enthauptung des Franzosenkönigs, das
Bürgerrecht an. Pervers, nicht?"
Der Narr verwarf die Arme, schmetterte: ((Gott sei Ludwigs Seele gnädig"
durchs "Sankt Mauritz". Plötzlich sprang eine Tür auf, Männer und Frauen
kreischten im Saal, eine Kapelle spielte Musik, jemand sang dazu:
"Siebentausend Rinder, Rinder, Rinder, im Sommer und im Winter."
Während zehn Wochen verbrachte M. P. die Nächte im Zentralgefängnis
Luzern. Tagsüber sass er an der Kasimir-Pfyffer-Strasse und half den
Polizeibeamten Emmenegger und Wermelinger, über Akten und Büchern
brütend, die sie noch am Abend des 5. Mai 1992 am Schötzer Dorfkern 2
beschlagnahmt hatten. Und je länger er den beiden Männern von seinem
Frevel erzählte, desto schöner schien ihm das Leben. Der Schweizer
Verband der Raiffeisenbanken beruhigte endlich, kein Kunde brauche um
seine Franken zu bangen, denn gross seien die Reserven.
"Aber wo", fragte ich, "blieben M. P.s Millionen?"
Mitte Juli 1992 füllte das Geständnis des Schötzer
Raiffeisenbank-Verwalters 300 Seiten Papier. Emmenegger und Wermelinger
wunderten sich täglich, denn bei alter Betrügerei während 14 Jahren
hatte M. P. an sich zuletzt gedacht, hatte sich kaum mehr als ein
Tuffsteinbrünnchen fürs Wohnzimmer und einen Audi 100 2.3 E für die
Tiefgarage erlaubt. Und es war den Polizisten, als sei der Spruch von
seiner Herzensgüte einst mit Recht durchs Hinterland gegangen.
Vielleicht drei, vielleicht vier Millionen Franken hatte der Mann, der
zu Widerstand kaum fähig war, wenn jemand ihn um einen Gefallen bat, an
alte Menschen verschenkt, 300 000 an drei Geschwister. vielleicht 100
000 an einen Hilfsgärtner. Römisch-katholische Priester in Slowenien und
Peru freuten sich an seiner Mildtätigkeit, und M. P. fand, der Schötzer
Pfarrer und seine Helfer seien im Grunde unterbezahlt, und so überwies
er, der Kirchmeier. ihnen einen Lohn ausserhalb der Norm.
Entdeckte M. P., dass die Kranken. und Unfallversicherung Konkordia, deren
Kassenstelle er führte, sich weigerte, Arztrechnungen seiner Kunden zu
bezahlen, beglich er, der mit allen fühlte, die Schuld und schwieg.
Dutzende von Schötzer Kindern trugen schliesslich teure Spangen am
Gebiss, vom Herzensbesten heimlich finanziert.
Doch, vor allem, lebte am Dorfrand, Richtung Nebikon, ein Onkel, zwar
Doktor der Rechte, aber mittellos, der sein Leben lang seltsamen
Erbschaftsangelegenheiten anhing, die dem Armen kein Geld brachten, nur
Schulden und einen Verfolgungswahn. Mit ihm hatte das Unglück begonnen.
Ihm schenkte M. P. vier oder fünf Millionen Franken. Aber es war für den
besten aller Zwecke: die Gerechtigkeit.
"Dieser Onkel heisst lsenschmid", sagte der Narr, "Moritz lsenschmid."
Plötzlich sah ich hinter der Maske zwei kleine. nasse Augen.
Immer leiser war der Erzähler an meinem Tisch geworden, Andacht lag in
seiner Rede, und ich beugte mich zu ihm. Dann sprach er so schwach, dass
ich ihn nicht mehr verstand.
Zwei Männer, der eine als Kaminfeger verkleidet, der andere als Saddarn
Hussein, stritten über den neuen Benzinpreis. Saddam war dafür, der
Kaminfeger dagegen, und sie lärmten so laut, dass andere hinzukamen und
bald in den Krieg eintraten. Es war Narrenball in der Mitte des
Kontinents.
Ich bezahlte Bier und Wurstsalat, bot dem Fremden an, auch sein Coca.Cola,
an dem zu ziehen er vergessen hatte, zu übernehmen. Der Rote aber
wehrte, er lasse sich nicht bestechen. Dann schwiegen wir, sahen den
anderen Narren zu, "Aber was", fuhr ich schliesslich fort, "hat Ihr
Daumen mit dem Vatikan zu tun? " Der Mann setzte sich neben mich, drehte
den Kopf wieder nach allen Seiten, rutschte näher, hustete den Schleim
aus dem Rachen. Dann flüsterte er.
Kalt war die Welt auf der Place de la Revolution, die heute Place de la
Concorde heisst, drei Grad Celsius am 21. Januar 1793 in Paris. Um 10.22
Uhr war der Kopf von Ludwig XVI. ab. Robespierre. der Revolutionär,
schrieb, 13 Jahrhunderte des Königtums seien damit beendet. Neun Monate
später fuhr das Fallmesser auch durch den Hals der Königin Marie
Antoinette, Eheweib des Vorangegangenen, Erzherzogin von Österreich und
Tochter des deutschen Kaisers Franz I und der Kaiserin Maria-Theresia.
Die Toten liessen zwei Kinder in der Zeit: Marie-Therese-Charlotte, 15
Jahre alt, und Ludwig-Karl, geboren am 27. März 1785, also acht Jahre
alt, der Thronfolger, der sogenannte Dauphin. Die Königskinder lebten im
Kerker des Temple zu Paris, bis das Mädchen am 26. Dezember 1795 in
Basel den Gesandten ihres Cousins, des deutschen Kaisers Franz II,,
übergeben wurde, der im Gegenzug ein Dutzend bekannter Revolutionäre
frei liess. Ludwig-Karl, der zehnjährige Dauphin, starb am 8. Juni 1795
im Revolutionsgefängnis, dünn und krank, so schreibt die offizielle
Geschi............
"Nun fangen Sie aber wieder von vorne an!" Mahnte ich.
"Störe die Wahrheit nicht", beschwor der Fremde, "die Wahrheit hat 90
Belege."
Dreissig Männer, jeder auf seine Weise, keiner überzeugend, gaben sich
nach dem Tod des kleinen Thronfolgers, dessen Sterben ohne
Öffentlichkeit geschah, als Dauphin Ludwig XVII. aus. Der Schlaueste
unter den Falschen war ein gewisser Naundorf, der die Rolle so
widerspruchslos log, dass erst der Vergleich seiner Haare mit jenen des
toten Dauphins den Schlich offenbarte. Dauphins lebten plötzlich an
allen Ecken Europas. Einer, der sich Louis Leroy France rufen liess,
meldete sich sogar aus New York; ein anderer, Jean Marie Hervagault,
verwies auf ein Mal am rechten Bein und gelobte, Papst Pius VI.
persönlich, bevor Napoleon ihn verschleppte, habe ihm, und 20 Kardinäle
seien Zeugen gewesen, ein Stigma ins Bourbonenfleisch gedrückt, um für
alle Zeit den einzigen Dauphin zu markieren. Ich lachte und bestellte,
weil mir die Erzählung des Roten ständig besser gefiel, noch ein Bier,
und wieder schien mir, dass nichts so unwahrscheinlich sei wie die
Wirklichkeit. Der Narr blieb bei seinem Coca-Cola.
Im kalten November 1948, 153 Jahre nach dem Tod des Zehnjährigen im
Pariser Kerker, setzte in Oberhallau, Kanton Schaffhausen, ein alter
Mann, Karl Spadin, Prediger des Wortes Gottes auf eigene Faust, seine
Unterschrift auf einen Bogen Papier. Er und 33 Verwandte versprachen
einem Luzerner Juristen, wenn es diesem gelänge, eine längst fällige
Erbschaft zu finden, zehn Prozent der Summe, die, so veranschlagten sie,
sich mittlerweile auf anderthalb Milliarden Schweizer Franken belief,
brutto. Denn der fromme Spadin, gebürtig von Sankt Antönien, Graubünden,
sei bei allem, was ihm lieb und wert scheine, der leibhaftige Urenkel
des Franzosendauphins Ludwig XVII.
Ich sagte: "Hoppla!"
Zwei Äuglein glänzten.
Freunden des französischen Königshauses
sei es nämlich im März 1795 gelungen, den Dauphin aus dem Verlies zu
holen, und an seine elende Stelle
hätten sie ein lungenkrankes Kind gesetzt, dem Dauphin ähnlich, das
dann wirklich am 8. Juni verblich.
Der Königssohn aber sei übers Meer geschifft und bei britischen
Pflegeeltern gross geworden, Russell von Namen.
Dort, fern der Heimat, auf Schloss Castle Moor, habe man den Thronfolger
gezwungen, dem katholischen Glauben abzuschwören
und auch zeit seines Lebens niemandem zu verraten, wer er in Wahrheit
sei. Sonst würde er prompt erschossen.
Dann aber, als Napoleon I. Europa durcheinander brachte, habe der
Dauphin, Russel genannt, von der Insel fliehen können
und sei also in die Schweiz nach Sankt Antönien gekommen, wo er, nun
als Joseph Franz Rassel, Lehrer wurde
und zusammen mit der einheimischen Margareta Staupf sieben Kinder
hatte.
Der tapfere Jurist, der sich im kalten November
1948 aufmachte, den Nachkommen des französischen Thronfolgers zu anderthalb
Milliarden zu verhelfen, deren zehnter Teil ihm gerechter Lohn sein sollte,
war Dr. jur. Moritz Isenschmid aus Schötz, wo heute nacht Narrenball war.
"Herunter von meinem Knie, du schwarzbraune Rosmarie", sang .Saddam Hussein.
Dr. lsenschmid, jüngster Sohn des ehemaligen Pfarrsigristen und
Gemeindeschreibers von Schötz, Eduard Isenschmid, der 1933 alle seine Ämter
aufgegeben hatte, um. als Nationalrat der Katholisch-Konservativen nicht nur
mehr dem Luzerner Hinterland, sondern der gesamten Eidgenossenschaft zu
dienen, begann seine Arbeit sofort. Aber erst im Sommer 1950 entdeckte er im
Buch eines gewissen Dr. de Fontbrune, das er im übrigen für ein Lügenwerk
hielt, die Mitteilung, dass die Schwester des Franzosendauphins. die dem
Kerkertod nach Österreich ausgewichen war, im Jahr ihres kinderlosen
Absterbens, 1851, auf Schloss Frohsdorf in Wiener Neustadt ihrem
Beichtvater, dem apostolischen Nuntius Michele Viale, ein Testament
zugunsten ihres Bruders zitiert habe, mit der Verfügung, dieses dürfe erst
hundert Jahre nach ihrem Hinüberscheiden eröffnet werden. Das müsste also,
rechnete damals Dr. lsenschmid, bald geschehen, am 19. Oktober 1951, und er
schloss, dass das geheime Papier, dem er nachstellte, im Vatikan verwahrt
liege. Um jeder Eventualität zu wehren, fuhr Dr. Isenschmid aber schon ein
Jahr vor dem Ereignis nach Italien, am 27. Oktober 1950, Luzern ab: 08.11,
Roma Termini an: 22.25. Sechs Wochen blieb er in der Stadt und fand in
Kardinal Angelo Mercati, dem Präfekten des vatikanischen Geheimarchivs,
einen Menschen, den er in seinem Tagesbericht als "hochedel" wertete. Aber
dann widerfuhr Dr. Isenschmid ein Skandal, der ihn die Schwierigkeiten
seines Mandates ahnen liess. Es traf nämlich in jenen Tagen im Vatikan der
Brief eines gewissen Grafen von Parma aus Amerika ein, der, wie schon
Isenschmid, Geheimarchivar Kardinal Mercati daran erinnerte, am kommenden
19. Oktober das Testament der Königstochter zu eröffnen.
"Graf von Parma?"
"Ein Grosskind einer Nichte des Dauphins!"
"Aha"
Aber wenige Tage später, in einer dunklen Novembernacht, wurde der Brief
des Parmesen vorn Tisch des Geheimarchivars gestohlen. Ein Dieb war im
Vatikan, kein gewöhnlicher. Noch erfasste Dr. lsenschmid den Hintergrund der
Tat nicht in ihrer Verästelung. Deshalb fuhr er wieder in die Schweiz und
wartete, und je länger er im Hinterland harrte, desto zwingender schien ihm
eine Reise in die russische Zone nach Wiener Neustadt, wo einst die
Schwester des Dauphins ihre Jahre verbracht hatte. Schliesslich, von den
Kommunisten nicht behelligt, erreichte er im Juni 195 i Schloss Frohsdorf.
Fürstin Beatriz Massimo, geborene Prinzessin von Bourbon, Infantin von
Spanien. die nun das Anwesen nutzte, erlaubte dem Schätzer, in ihren Truhen
während Tagen zu wühlen. Allerdings bedingte sich die Edle, sollte Dr.
Isenschmid seine Erkenntnis je in Buchform verbreiten, vom Gewinn 15 Prozent
netto aus.
So jährte sich am 19. Oktober 1951 der Tod der Königstochter zum
hundertsten Mal. Und der Vatikan, statt zu eröffnen, schwieg.
Doch Dr. Moritz lsenschmid, ruheloser Schnüffler für die Gerechtigkeit,
wollte der Sache auf den Grund gehen. Am 3. November 1953 reiste er wieder
nach Rom, setzte sich vier Wochen lang in die Kantine der päpstlichen
Schweizergarde und bat, wer in violetter Bauchbinde zur Nahrung drängte, um
Hilfe. Endlich, am 5. Dezember, geschah Wichtiges. Der Jesuitenpater
Aquilino Reinert, Beichtvater in der Basilika. des heiligen Petrus, sprach.
Nachdem er sich in den vatikanischen Gemächern umgehört hatte, jenen Satz,
den Dr. lsenschmid Jahre später in der öffentlichen Urkunde 86/1976
eidesstattlich wiederholen würde: "Geld und Geheimdokument können nur bei
Kardinal Canali sein!" Also schrieb der Schötzer Seiner Eminenz Nicola
Canali, Präsident des Kardinalrates für die Verwaltung der Güter des
Apostolischen Stuhles, Grossmeister des Ritterordens vom Heiligen Grab zu
Jerusalem, einen langen Brief in italienischer Sprache, den er Canalis
Sekretär, Monsignore Giuseppe Curatola, Ehrenkämmerer im violetten Gewand,
in die Hände legte. Isenschmid bebte vor Ungeduld.
Eine Woche später beschied Curatola, sein Chef habe den Brief wohl
gelesen, sei aber mit einem Geheimtestament nie befasst gewesen, und er,
lsenschmid, solle sich deshalb an das Kardinalstaatssekretariat halten, So
kam der Mann, seit vier Monaten in Rom, am 10. März 1954 mit den Prälaten
Bruno Wüstenberg, Minutant der deutschsprachigen Abteilung, und Giuseppe
Zabkar, Sekretär der zweiten Klasse, zusammen, und die beiden Herren setzten
ihm auseinander, dass die kinderlose Königstochter Marie-Therese-Charlotte
ihrem Bruder, dem Dauphin, nie und nimmer ein Vermögen habe hinterlassen
können, denn die Arme sei geradezu bedürftig aus dem Leben geschieden.
Dr. lsenschmid aber, obwohl Katholik und nichts anderes, glaubte der Kurie
nicht. Und so überrührte der Schötzer, als er am 21. Mai 1954 von Canalis
Sekretär einen Brief erhielt,
Ein Dieb war im Vatikan, kein
gewöhnlicher
Dr. Isenschmid bebte.
die Beteuerung. von nichts zu wissen, sofort als hinterhältige Restrictio
mentalis, als geheimen Vorbehalt, einen miesen, frechen Juristentrick:
Warum sonst hätte der Kardinal ausrichten lassen, unter dem Stichwort
Dauphin habe er weder privat noch amtlich, je eine Notiz besessen? Hatte
Isenschmid denn je nach dem Dauphin gefragt? Doch wohl nur nach dessen
Schwester!
Da ging ihm auf, dass der mächtige Kardinal Canali in Wahrheit der
Antichrist war. Dr. Isenschmid schrieb in sein Heft: "Wo bleibt der
gerechte Gott?"
"Und wovon hat er gelebt? " fuhr ich dazwischen.
"Wer?"
"Der lsenschmid."
"Spielt das eine Rolle, wenn es um die Gerechtigkeit geht!" fauchte der
rote Narr, plötzlich erregt.
Dann sah ich das Zittern seiner Hände. Zwischen Hoffnung und Jammer
krochen die Jahre dahin. Dr. lsenschmid reiste nach Wien und London und
Innsbruck und Rom, forschte und kombinierte, heiratete nie, weihte sein
Leben dem Kampf und schrieb Brief um Brief und bekam keine Antwort.
Schliesslich, wieder in Rom, der Sieg. Unvermutet rasch, vielleicht. Denn
auf der Karte stand geschrieben: "Seine Heiligkeit empfängt in Audienz:
Dr. M. Isenschmid. morgen Freitag um 12.30 Uhr. Der Kammermeister." Noch
nie in seinem Leben war der Mann aus Schötz so nervös gewesen. Er ging,
als der Heilige Vater am 26. Februar 1960 in den Raum schwebte, in die
Knie, küsste dem Papst die Hand, Johannes XXIII
lächelte und sprach: "Noch diesen Abend werde ich Ihre
Unterlagen lesen." Das war's. Dann sagte er noch, und er klopfte
dabei dem Hinterländer, als wäre der ein Dienstkollege, die Schulter:
"Coraggio, Dottore! Coraggio, Dottore!" Nur Mut, Herr Doktor!
Zehn Tage später Man habe nichts gefunden. 34 Schweizerinnen und
Schweizer, die alle glaubten, Nachkommen des französischen Dauphins zu
sein und also, wenn sie richtig überlegten, Multimillionäre, stellten
ihren Anwalt Isenschmid. als er nach 20 Jahren der Mühsal in Rom noch
keinen Franken gelöst hatte, zur Rede. Dr. lsenschmid beruhigte mit
gewählten Worten. Er zehrte vom Ruf seines Vaters Eduard, des ehemaligen
katholisch-konservativen Nationalrates, und von der Unterstützung seines
Bruders Joseph, des Militär- und Polizeiministers des Kantons Luzern.
Bruder Hans, der Gemeindeschreiber in Schötz, hatte sogar, um Moritz
weiter durchs Leben zu füttern, auf das eigene Wohnhaus ein Grundpfand
in der Höhe von 80 000 Franken verschreiben lassen, 60 000 davon erhielt
der Dr. iur. vom Dorfrand. Die Not wurde trotzdem gross, und lsenschmid,
dem glatten Redner, gelang es, selbst solche Menschen von der
Wichtigkeit seiner Kunst zu überzeugen, die, würden eines Tages die
anderthalb Milliarden Wirklichkeit, eigentlich nichts davon hätten, weil
sie von harmlosen Alemannen und nicht von Bourbonen stammten. Aber er
versprach, Verwandtschaft hin oder her, allen, die ihm Geld liehen, den
Segen Gottes nebst einem fetten Zins und das Doppelte oder gar das
Dreifache der Einlage, "erst, ab sofort nach .Auszahlung des
Erbbetreffnisses". Verlor einer dennoch den Glauben, dass es je soweit
käme. erklärte ihm Dr. lsenschmid bei seiner Ehre, dass mit einer
Sicherheit von 90 Prozent in einem halben Jahr das grosse Geld
eintreffe, Und als wollte er seine Klientschaft zu Demut zwingen, liess
er sie am 7. November 1971 im Buffet des Hauptbahnhofs Zürich. erste
Klasse, erster Stock, den Satz unterschreiben: "Wir Rassel-Erben sind
uns bewusst, dass Dr. Isenschmid für die Bearbeitung des Erbfalles
Rassel bis jetzt fast unbeschreiblich grosse finanzielle Opfer gebracht
hat, neben der unerhört grossen Arbeitsleistung. Auch wissen wir, dass
es sich um einen einmalig schwierigen internationalen Fall handelt."
Der Rote wühlte in seinen Lumpen, fand ein Taschentuch und trocknete sich
den Schweiss vom Hals. Dann, in der Manier des Guterzogenen, faltete er
den Stoff fünfmal, und mir schien für einen Augenblick, als seien die
Buchstaben M und I ins Gewebe gestickt.
"Sind Sie Moritz Isenschmid?" fragte ich. Ein Zucken fuhr durch seine
Postur. Der Narr starrte mir ins Gesicht, schwieg und schnaubte, dann
schimpfte er: "Der Moritz geht an keinen Maskenball!" Nun blieb er
stumm. Die Figuren nebenan einigten sich auf die Schädlichkeit von
teurem Benzin, und ich überlegte, wie ich den Trotz des Erzählers
verdünnen könnte, Schliesslich bestellte ich drei Deziliter Rotwein,
schob dem Fremden Flasche und Glas vor die Maske. "Wie weiter?" sagte
ich.
Am 7. Dezember 1973, Dr. Isenschmid plagte sich bereits zum neunten Mal
durch Vatikanien, bekam der Mann aus Schötz vom Sekretär Seiner
Exzellenz Giovanni Benelli. Substitut im Kardinalstaatssekretariat,
heftig bedeutet, dass der Vatikan sich nie nie nie mehr mit seiner
Angelegenheit zu befassen wünsche Die Sache sei deshalb zur Causa gravis
erhoben worden, und nur der Heilige Vater persönlich könne daran noch
etwas ändern, basta, Dottore.
Der Schrecken. hätte für den Hinterländer nicht grösser sein können. Sein
Werk, auf 90 schriftliche Beweise angewachsen, war zerstört, jede
Hoffnung entwurzelt. Was nur würde er den Erben des Joseph Franz Rassel,
seinen Auftraggebern, erzählen? Und was würde man im Dorf über ihn
reden? So wandelte er, die Depression im Gesicht, durch die Hallen, als
er, Gott ist allmächtig, einen alten Freund aus Studien tagen erkannte,
den Kommandanten der päpstlichen Schweizergarde, Glied der päpstlichen
Familie und Kammerherr Seiner Heiligkeit, Dr. jur. Franz Pfyffer von
Altishofen. Oberst Pfyffer winkte den Schötzer in sein Büro und setzte
einige Worte in die Welt, die ihm, so würde lsenschmid es später zu
Papier bringen, schier das Herz stillstehen liessen. Pfyffer von
Altishofen also sprach: "Von hoher und kompetenter Seite habe ich
erfahren, dass du recht hast!"
Dr. lsenschmid notierte: "Wo der Teufel ist, da ist auch Gott."
Doch Oberst Pfyffer, als er zwei Jahre später seinen Satz schriftlich
wiederholen sollte, um Isenschmid ein Beweisstück mehr zu liefern,
berichtete bloss, an den genauen Inhalt dessen, was ihm damals
mitgeteilt worden sei, vermöge er sich natürlich nicht mehr zu erinnern.
"Ein Feigling?"
"Ein edler Mensch". antwortete der Fremde, "vom Vatikan zum Schweigen
gebracht. Wieder strichen nutzlose Jahre dahin. Die Schweizer
Justizminister in Bern, die Aussen- und Innenminister liessen verlauten,
man könne Dr. Isenschmid auch auf diplomatische Weise nicht helfen. Ein
Erfolg am Gerichtshof von Den Haag sei sehr unwahrscheinlich. Das Geld
war aus, und die Menschen, die ihm vertraut hatten, redeten plötzlich
von Betrug. "Sie erkühnen sich zu schreiben", musste Dr. Isenschmid
gegen Fräulein B. das Geschütz auffahren, "dass ich Ihnen das Darlehen
seinerzeit ziemlich erpresst habe. Diese unwahre Behauptung ist
gesetzeswidrig! Sie verstehen, was ich damit andeuten will." Das Unglück
wurde Dr. lsenschmid zum Schatten. Übergab er am 28. September 1978 um
12Uhr mittags der Vatikanpost einen Brief, eingeschrieben wie immer, an
Papst Johannes Paul I, in dem er, um dem Heiligen Vater einzuheizen, von
der elenden Armut der Schweizer Dauphinerben schrieb, so lag der
Priesterkönig am anderen Morgen tot im Bett. Oder wartete Dr. lsenschmid
im Juli 1980, zum sechzehnten Mal in Rom, hoffnungsgeladen auf den
polnischen Erzbischof Deskur, der, so ging die Rede, zum Polenpapst
Wojtyla beste Beziehungen pflege, so musste der Schötzer erfahren, dass
der wichtige Mann, den heimzusuchen er nach Rom gekommen war, nicht in
Rom weilte, sondern in Oberägeri zur Kur, 60 Kilometer neben Schötz. Und
glaubte schliesslich der Jurist im Mai 1981, die Gerechtigkeit sei
übermorgen schon hergestellt, weil ihm der Bischof von Solothurn
versprochen hatte, die 90 gesammelten Papiere dem Papst vorzulegen, wenn
der nächstens in die Schweiz käme, so schoss ein gedungener Türke den
Heiligen Vater drei Tage vor der Reise transportunfähig. "Pass doch
auf", schrie der Rote, weil die Serviertochter. Lady Diana, an den
gespaltenen Daumen stiess. "Zwetschge!"
Als die Gerechtigkeit zu scheitern drohte, im Herbst 1978,wurde M. P.,
Verwalter der Raiffeisenbank und Kirchmeier in Schötz, zum Betrüger. Dem
Flehen seines Onkels hielt er nicht mehr stand. Also stahl er, vom
Teuflischen im Kirchenstaat längst so überzeugt wie der, der ihm davon
seit Jahren berichtet hatte, 20 000 Franken vom Baukonto seiner
Kirchgemeinde. Nicht für lange, dachte M. P.. Denn der Onkel hatte
versichert: "Wenn ich recht beraten bin, so erhalte ich diesen Monat
noch offiziellen Frohbericht aus dem Vatikan." Nach der Probe der
Musikgesellschaft Eintracht, in der M. P. das Cornet spielte, so rein
wie kein zweiter, fuhr der Bankverwalter, das Geld über dem Herzen, an
den Dorfrand, Richtung Nebikon. Er sei der herzensbeste Mensch auf
Erden, lobte Dr. Moritz Isenschmid seinen Neffen, als er die Beute in
Händen hielt.
Doch die 20'000 der Römisch-Katholischen allein flickten die
Weltgerechtigkeit nicht, und Dr. lsenschmid bat den Mann von der
Raiffeisen um christliches Mitleid, Monat für Monat während 14 Jahren,
regelmässig um einige tausend, oft um viel mehr. Vier- oder fünf
Millionen. Denn Unzählige im Hinterland vom Reichtum der französischen
Königstochter verführt, hatten Nationalrat Isenschmids Moritz ihr Geld
gelassen, und der Jurist, um Zinsen und Zinseszinsen zu bezahlen, war
ständig in Verzug. Betreibungen, zwischen 1980 und 1992 allein 22,
machten den Kampf gegen die Kardinäle zur Lebensschlacht. Der Neffe am
Dorfkern 2 aber, der den Krieg finanzierte, täuschte seine Aufsichtsräte
und Revisoren elegant, schob Zahlen von der Bank zur Kirchgemeinde, zur
Konkordia und zurück, fälschte Rechnungen und Unterschriften und
Stempel, ein Werk, das ihn täglich drei Stunden Sünde kostete, bis er am
4. Mai 1992, kurz nach 13 Uhr, als er an den Sieg des Guten nicht mehr
glaubte, sein Dorf verliess, und so, Spass muss sein, der Pfyfferzunft
in Altishofen günstigen Anlass lieferte, einen Fasnachtswagen zu bauen.
Über den Käfig schrieben sie:
"Auch grossherzige Sponsoren müssen sich ab und zu erholen."
"Warum fragst du nichts mehr?" flüsterte der Narr im blutroten Tuch.
Ich schwieg, dann schwieg auch er, den Daumen, wie das Sinnbild aller
Gerechtigkeit, zerquetscht, von der Hand gespreizt.